Magazine und Zeitungen der Zukunft — iPad-App oder Website?

28. November 2010

In diesem Beitrag möchte ich Aspekte darstellen, die bei der Entscheidung helfen können, welche Wege Publisher in Zukunft gehen können, um in Zeiten von neuen technischen Möglichkeiten und geändertem Leseverhalten erfolgreich zu publizieren. Es gibt natürlich keinen einzig richtigen Weg, ich kann hier aber Vor- und Nachteile anhand relevanter Kriterien nennen. Denn es macht einen großen Unterschied, ob man Verleger der „Gala“ oder des „BMW-Magazins“ ist. Die Zielgruppe, die Interessen des Verlegers oder der Werbetreibenden etc. sind nur ein paar Aspekte, die für jedes Medium eine individuelle Entscheidung erfordern.

Paid-Content

„Leser zahlen nicht für Inhalte/Informationen, sondern für das Medium“, so die Meinung von Oliver Reichenstein („… pay for the interface — the actual paper, not the content …“) von Information Architects. Gemeint ist, dass Leser für die tägliche Printausgabe der Zeitung bereit sind zu zahlen, für den gleichen Text online aber nicht bezahlen würden, weil das Erlebnis des Besitzens (physisch, haptisch) entfällt. Zudem ist man seit Jahren gewohnt, Inhalte im Internet kostenlos konsumieren zu dürfen, was zu einer Abwertung von Online-Inhalten im Allgemeinen geführt hat. Die langweiligen, standardisierten „Layouts“ verstärken das zusätzlich.

iPad-Apps sind für Verlage nun ein neues Medium/Container, und die Leser sind tatsächlich bereit, Geld zu bezahlen. Jetzt entsteht auch auf dem Bildschirm der Eindruck des exklusiven Besitzens eines Inhalts, gepaart mit einer meist aufwändigeren print-ähnlichen Gestaltung und dem Einsatz von Multimedia.

Ganz allgemein kann man sagen, dass man um eine App kaum herumkommt, wenn man auf zahlende Kunden abzielt. Die bisherigen Versuche von Paid-Content auf herkömmlichen Webseiten lassen keinen Gegentrend erkennen. Bedenklich ist nun, dass ein Trend zu geschlossenen System zu erkennen ist.

Zielgruppe

Es wäre fatal, die Zielgruppe nicht zu berücksichtigen. Dabei geht es um zwei Dinge: 1) möchte meine Zielgruppe auf dem Bildschirm lesen und 2) besitzt sie überhaupt ein iPad?

Zum ersten Aspekt kann man vielleicht sagen, dass sie überhaupt keine andere Wahl hat, als sich an das neue elektronische Medium zu gewöhnen. Es ist jetzt schon abzusehen, dass sich durch Geräte wie Apples iPad auch das Leseverhalten ändert und Inhalte zunehmend auf dem Bildschirm konsumiert werden. (Desktop-PC = Arbeitsatmosphäre, Tablet-PC = Entertainment, lean-back) Bei E-Books ist dieser Trend ebenfalls erkennbar.

Zum zweiten Punkt muss man wissen, dass die Marktdurchdringung des iPad in Deutschland im Moment noch gering und die Gruppe der iPad-Besitzer stark diversifiziert und noch nicht genau zu charakterisieren (Alter, Einkommen, soziographische Faktoren etc.) ist. Durch das Erscheinen von iPad-Konkurenten wie Samsungs Galaxy Tab oder RIMs Playbook ist eine stärkere Verbreitung mittelfristig absehbar. Zudem werden die Geräte künftig günstiger.

Zugänglichkeit

Bei folgenden Aspekten schneiden aktuelle Publishing-iPad-Apps schlecht ab, Web-Magazine, die auf herkömmlichen und offenen Technologien basieren, spielen ihren Trumpf hier aus.

SEO – Beim Thema Suchmaschinenoptimierung ergibt sich beim geschlossenen Konzept der Apps ein Problem: die Inhalte sind nicht durch Google & Co indizierbar.

Der Content ist nicht auf öffentlich erreichbaren Web-Servern abgelegt und somit auch für Suchmaschinen unerreichbar.

Gerade für tagesaktuelle Formate ist das problematisch und dürfte in vielen Fällen die Reichweite extrem einschränken.

Ein weiterer Aspekt, der sich direkt anschließt, ist die Barrierefreiheit. Menschen mit Einschränkungen beim Sehen können sich nicht auf übliche Screenreader verlassen, sie bleiben außen vor.

URLs

Social-Media-Integration ist ein wichtiges, nicht zu vernachlässigendes Instrument, um weitere Leser durch weitergeben der URL auf einen entsprechenden Artikel aufmerksam zu machen. Im typischen Fall „teilt“ ein Leser den Link zum Artikel mit einem kurzen Kommentar oder „Gefällt mir“ auf Plattformen wie Facebook oder Twitter. Im Web ist das kein Problem, anders bei Apps: Es gibt keinen Link zum Artikel, dieser ist ja nicht öffentlich zugänglich und kann nur mit der App gelesen werden. Das problemlose verteilen und pushen von Artikeln ist nicht mehr möglich und widerspricht dem Ansatz des Social-Web gänzlich. Workaround: Das iPad-only Magazin „The Iconist“ (Springer Verlag) löst das Problem so: Von jedem Artikel wird auch ein Teaser auf eine Website gestellt, somit können Empfänger einer Leseempfehlung den Link aufrufen und den Artikel anlesen. Für den gesamten Inhalt muss man natürlich dann die App ebenfalls installieren. Es ist also mehr ein Marketing-Mechanismus für „The Iconist“ als eine echte Share-Funktion.

Web-Präsenz von The Iconist mit Teaser-Artikeln zum sharen

AppStore – Apples AppStore ist das Eingangstor in die Welt der Apps. Es ist das einzige und das ist das Problem. Nach einem Thema googlen hilft nicht. Man muss schon wissen, dass es im AppStore ein Magazin zum Thema gibt und dort danach suchen – eine große Barriere für weniger bekannte Titel oder Neuerscheinungen.

Performance

Ja, native iPad-Apps bieten eine bessere Performance. Scrollen, swipen und andere Gesten sprechen unmittelbar an, funktionieren sehr genau. Aufgerufene Artikel sind ohne Ladeverzögerung sofort sichtbar, zudem sind die Inhalte auch noch offline (also im S-Bahn-Tunnel) verfügbar. Sonderfunktionen sind nativ einfacher realisierbar, z.B. ein auf dem iPad gespeicherter Einkaufszettel eines Koch-Magazins oder die Integration eines kleinen multimedialen Games.

Web-Apps können in Sachen Perfomance (noch) nicht mithalten, viele interessante Funktionen sind aber durch neue Webtechnologien wie HTML5, CSS3, JavaScript/AJAX, Webfonts, Unterstützung von Multi-Touch-Gesten, nun auch auf klassischen Webseiten möglich.

So lassen sich dynamische Umgebungen schaffen, die durch intelligentes Design eine hervorragende User Experience ermöglichen. Redaktionelle Inhalte lassen sich nun endlich auch im Web interessant, inhaltsbezogen und multimedial gestalten. Gerade bei längeren Artikeln könnte der Trend hingehen zu individualisierten Layouts, die durch eine sinnvolle Text-Bild-Beziehung überzeugen und sich deutlich von jetzigen standardisierten CMS-getriebenen Gestaltungsansätzen abheben – Eine äußerst spannende und vielversprechende Entwicklung.

Individuelle Layouts (Blogazine) von Jason Santa Maria

Apple, Adobe & Co vs. Offene Web-Standards

HTML, CSS und andere Webtechnologien darf jeder verwenden, man muss weder Lizenzgebühren bezahlen noch benötigt man Software, die es nur teuer von einem einzigen Hersteller gibt. Man kann also wirklich von offenen Standards sprechen – anders bei iPad-Apps.

Apple – Man kommt um Apple nicht herum, wenn man eine iPad-App mit eigenen Inhalten anbieten will. Vor allem bei der Distribution der Apps im AppStore gibt Apple die Regeln vor. Alle Apps können nur hierüber verbreitet werden und müssen den strengen und nicht immer transparenten Regeln von Apple genügen. Was den Nutzer vor schadhafter Software schützt, wird dann problematisch, wenn der Konzern auch in die Inhalte von Medien eingreift (Zensur). Darüberhinaus ist es bei der Unmenge an Apps schwer möglich, in die begehrte Top-25-Liste zu gelangen und die Gefahr ist groß, übersehen zu werden.

Der AppStore auf dem iPad

Adobe – Adobe hat mit der frühen Zusammenarbeit mit Wired deutlich gemacht, dass man auch ein Stück vom Kuchen haben möchte und sogleich die Entwicklung der Digital Publishing Suite (früher: Digital Magazine Solution) gestartet. Für viele Gestalter ist es ein Segen, so können sie weiterhin die gewohnten Werkzeuge (Adobe InDesign) verwenden. Der Software-Riese möchte aber mitverdienen, mit jedem Download einer Ausgabe, die mit seinem Tool erstellt wurde. Über ein CDN stellt Adobe die schweren (oft mehr als 250 MB pro Ausgabe) Datenpakete zu Verfügung.

Ausgabegeräte

Das Galaxy Tab hat ein anderes Seitenverhältnis als Apples iPad, die nächste Generation iPad wird vermutlich eine höhere Auflösung haben, Android-Tablets kommen, ebenso das Playbook von RIM und einige andere. Um die Reichweite zu maximieren, müsste für jedes Gerät eine eigene App erstellt werden oder zumindest das Layout (natürlich immer Hoch- und Querformat) angepasst werden. Es ist bekannt, dass die Reader-Apps (Container) von Adobe oder Woodwing für alle Plattformen entwickelt werden und die Magazin-Dateien (*.issue bzw. *.folio) dann lesbar sind. Aber Auflösung, Seitenverhältnis und andere Faktoren machen eine 1:1-Übernahme der Layouts eventuell nicht möglich.

Der Webbrowser (bei iOS Safari) jedoch ist ein universeller, flexibler Reader, der sich auf eine allgemein anerkannte und kostenlose Sprache geeinigt hat. Wie oben schon erwähnt, können nicht alle Funktionen und beste Performance versprochen werden, vieles ist aber mit Webtechnologien umsetzbar.

Periodikum

Gedruckte Magazine erscheinen als Periodikum, also beispielsweise monatlich. Blogs publizieren einzelne Artikel mehr oder weniger regelmäßig, sie haben keinen Anfang und kein Ende. Ist ein Periodikum im Web überhaupt sinnvoll?

Stefan Niggemeier von der FAZ meint, der User sehne sich nach eben dieser Endlichkeit und möchte ein Magazin auch „fertig“ lesen können.

Man wisse schließlich nach 15 Minuten Tagesschau auch, dass man über alles relevante des Tages informiert ist. Ich möchte diese These nicht weiter vertiefen, zusammenfassend aber feststellen: Natürlich eignen sich Magazin-Apps besser für Periodika als Web-Magazine. Apps leiten den Leser stärker, bieten weniger Möglichkeiten auszusteigen bzw. einzusteigen und erzeugen durch z.B. „Titelblatt“, Editorial, Coverstory oder Glosse den Ausgabencharakter.

Dennoch möchte ich hier auch ein Web-Periodikum nennen. Das Magazin der preisgekrönten und erfolgreichen Website designmadeingermany.de ist mittlerweile bei Ausgabe 5 angelangt und überzeugt durch relevante Inhalte und aufwändige, eigenständige Gestaltung.

Das Web-Magazin Dmig 5 verwendet neueste Webtechnologien und Webfonts

Erfolgsmessung

Nichts ist einfacher als Google Analytics in Webseiten zu intergrieren, oder Piwik, um nicht vom nächsten Konzern abhängig zu sein. Viele Parameter wie Verweildauer, Zugriffsquellen oder Herkunft der User sind zu erfahren und können entsprechend bewertet werden. Bei iPad-Apps sind natürlich die Downloadzahlen im AppStore zu erfahren. Weitere Informationen, vor allem zu einzelnen Artikeln sind dann schwer oder gar nicht verfügbar. Durch den Kauf von Omniture macht Adobe allerdings klar, dass sich das bald ändern wird. Eine umfangreiche Leseranalyse wird bald auch in iPad-Apps möglich sein.

Google Analytics

Werbung

Dass man bei Bezahlung pro Klick (auf einen Werbebanner) als Verleger kein Geld macht, sollte bekannt sein. Nur wenige Beispiele widerlegen das und die Methoden, um viele Klicks zu erreichen, sind teilweise fraglich (Bildergalerien als Klick-Huren).

Wie die Entwicklung des Werbemarktes bei Magazin-Apps weitergeht, ist derzeit schwer abzuschätzen. Denkbar ist aber eine print-typische Anzeigenvermarktung (evtl. sogar klickunabhängig). In jedem Fall sind Werbesonderformate hier denkbar und teilweise schon zu sehen, z.B. ein Autokonfigurator innerhalb der Anzeige oder andere Multimediaeinbindungen.

Fazit

Die oben genannten Aspekte machen in jedem Falle deutlich, dass die Publishing-Industrie sich in einer bedeutenden Umbruchphase befindet. Dass Print-Produkte auf lange Zeit deutlich weniger produziert werden und einen anderen Stellenwert bekommen werden, ist uns seit Jahren klar. Durch die Einführung des iPad erlebt die Branche aber einen ganz neuen, intensiven Push. Neue Konzepte der Distribution, des Design und der Hardware werden mittelfristig zu einem radikalen Wandel führen und wir alle können diese Entwicklung mitgestalten. Das wird spannend!